"Sprache ist nicht meine Welt"

Artikel aus dem Hilpoltsteiner Kurier vom 14.9.18

Hilpoltstein/Zell (HK)

Reden ohne Worte aber mit fliegenden Händen: Wie man mit gehörlosen Menschen kommunizieren kann und was die Gebärdensprache ausmacht, haben jetzt 30 junge Menschen gelernt, die eine Ausbildung oder ein Praktikum bei Regens Wagner Zell beginnen.

„Reden ist wirklich anstrengend“, sagt Marcus Willam, wischt sich den Schweiß von der Stirn und bläst die Backen auf. „Jeden Tag muss ich neue Wörter lernen, muss schauen, dass ihr mich versteht. "Dann springt er auf einen Stuhl und fuchtelt scheinbar wild mit Händen und Armen. „Schaut, so ist das doch viel einfacher und geht auch noch schneller“, sagt der Gehörlose, der an diesem Tag bei Regens Wagner Zell seinen Zuschauern und Zuhörern etwas über die Gebärdensprache beibringen will. Die schauen völlig verdattert auf seine flinken Bewegungen,mit denen er in Windeseile eine ganze Geschichte erzählt. Eine junge Frau zuckt mit den Schultern und hebt ihre Hand an die Stirn um dort mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis zu bilden. „Kein Ahnung“, heißt das bei den Gehörlosen. Rund 30 junge Nachwuchskräfte sitzen im Konferenzraum der Gehörloseneinrichtung im Kreis und schauen gebannt auf Marcus Willam, der ihnen seine Welt, die Welt der Gehörlosen, erklärt. Die Zuhörer sind eine bunt gemischte Gruppe: Praktikanten, künftige Heilerziehungspfleger oder Heilerziehungspflegehelfer und Männer und Frauen, die ein  Freiwilliges Soziales Jahr oder ein Freiwilliges Ökologisches Jahr bei Regens Wagner verbringen. Ein paar von ihnen haben schon einmal für ein paar Tage oder sogar Wochen bei Regens Wagner gearbeitet und können sich mit wenigen Gebärden verständigen. Für die meisten aber ist es völliges Neuland. Jan van Geldern vom Fachdienst für taubblinde Menschen gibt eine kurze theoretische Einführung, erklärt die verschiedenen Stadien der Schwerhörigkeit und auch, dass selbst Gehörlose, die noch Geräusche wahrnehmen, oft nur bestimmte Frequenzen hören. „Nutzt technische Möglichkeiten wie Hörsysteme, achtet auf die Körpersprache, konzentriert euch auf euer Gegenüber – es wird dauern, bis ihr die Gebärdensprache beherrscht.“ Und Jan van Geldern weiß, wovon er spricht: Er ist zwar selbst seit 18 Jahren bei Regens Wagner und kann sich gut verständigen, nimmt aber zur Zeit ebenfalls Gebärdensprachkurse. „Ich habe eine gehörlose Freundin. Da ist die Alltagssprache kein Problem, doch sobald es komplizierter wird, tue auch ich mich immer noch schwer.“ Es wird also ein langer Weg des Lernens für die Neuen bei Regens Wagner. So zum Beispiel für Juliane Grundler aus Reutlingen in Baden-Württemberg. Sie will bei RegensWagner ein Freiwilliges Soziales Jahr  ableisten. „Beworben habe ich mich wegen des therapiegestützten Reitens“,sagt die 19-Jährige. Und da ich mir die Arbeitmit Gehörlosen gut vorstellen konnte, habe ich mich hier beworben.“ Aus direkter Nähe, nämlich aus Unterrödel, kommt dagegen Katharina Schmitt. Sie leistet hier ihr Berufspraktikum als Erzieherin ab und war sich von Anfang an sicher, dass sie es in Zell machen möchte. „Wir sind schließlich schon immer mit Zell verbunden, weil mein Papa als Koch in der Küche arbeitet.“ Jetzt muss sich Katharina aber wieder auf Marcus Willam konzentrieren. Er spielt mit den Neuankömmlingen so etwas wie Stille Post: Die jungen Männer und Frauen stehen hintereinander und blicken nach vorne. Willam dreht das Mädchen, das ganz hinten steht, zu sich und macht mit den Händen nach, wie jemand eine Banane schält, sie isst und die Schale schließlich über seine Schulter wegwirft. Dann dreht jeder, der an der Reihe ist, jeweils seinen Vordermann zu sich um und versucht es nachzumachen. Je weiter die Geschichte von der Banane nach vorne „erzählt“ wird, umso fahriger werden die Gesten, einige fallen weg. Der letzte in der Reihe steht dann vor Willam, macht eine dreimalige Handbewegung Richtung Mund und eine saloppe Wegwerfbewegung über die Schulter. Willam schlägt die Hände vors Gesicht, lacht schallend und erklärt seinen Zuhörern gleich, auf was sie unbedingt achten sollten: „Lasst euch noch einmal sagen oder zeigen,was der andere verstanden hat.“ Die durch Hände und Arme geformten Gebärden sind laut Willam nur ein kleiner Teil der Sprache. Bewegungen des Oberkörpers und des Gesichts spielen eine ebenso große Rolle, wobei die Grammatik hauptsächlich über die Mimik vermittelt wird. „Schaut dem anderen in die Augen und nicht nur auf die Hände“, rät Willam. Grob fünf Jahre dauere es, bis jemand die Gebärdensprache beherrscht. „Und sie ist nichts anderes als eine Fremdsprache mit eigenen Wörtern und einer eigenen Grammatik“, erklärt van Geldern. Nadja Magg aus Büchenbach hat sich also einiges vorgenommen, denn die 18-Jährige, die bei RegensWagner ein Freiwilliges Soziales Jahr ableistet, möchte später Gebärdendolmetscherin werden. Sie hilft derzeit in der Schule und in der Tagesstätte. „So kann ich testen, ob es mir wirklich liegt“, sagt die 18-Jährige. Marion Fuchs aus Altmannsberg, die Erzieherin werden möchte und schon einmal in Zell war, hat schon ein bisschen Erfahrung mit der Gebärdensprache. „Nach einer Woche kann man zumindest die wichtigsten Ausdrücke für den Tagesablauf, nach zwei bis drei Monaten kann man sich schon einigermaßen unterhalten.“ „Wie bei jeder anderen Sprache lernen dieMenschen unterschiedlich schnell“, sagt Willam, der seit 13 Jahren bei Regens Wagner arbeitet und die Neuankömmlinge in die Grundzüge der Gebärdensprache einweist. Sowie seineSchützlinge jetzt die Gebärden erlernen müssen, so setzt er sich, obwohl er inzwischen fast fehlerfrei spricht, jeden Tag aufs Neue mit der Sprache der Hörenden, der Lautsprache, auseinander. Die Gebärden sind aber sein wichtigstes Kommunikationsmittel. Mit ihr kann er sich am schnellsten, am genauesten ausdrücken. „Denn Sprache ist nicht meine Welt.“